Eine positive User Experience ist der Schlüssel für erfolgreiche Software-Produkte.
Doch wie definiert sich erfolgreich? Darauf gibt es nur eine Antwort: die absolute Fokussierung auf den Menschen – sonst nichts. Nur dadurch können Software-Produkte die Erwartungen der Nutzenden übertreffen. Also Bedürfnisse der User erfüllen, die jenen vorab nicht einmal bewusst waren. Doch die Nutzenden müssen auch mit dem Produkt umgehen, die Inhalte verstehen und die bereitgestellten Features wahrnehmen können.
Und genau dafür benötigen wir Accessibility: Sie ist die Basis für positive UX. Sie ermöglicht es erst, Erwartungen zu übertreffen oder besser: Menschen zu begeistern.
Positive UX – eine Herausforderung für Entwickelnde und Nutzende
Menschen sind also der wichtigste und einzige Fokus von User Experience (UX). Und Technologien und Programmiersprachen nur Mittel zu dem Zweck, diese Menschen zu begeistern. Wir sprechen dabei übrigens immer von zwei Gruppen: Auf der einen Seite stehen die, die ein Software-Produkt nutzen. Auf der anderen Seite stehen die, die ein Software-Produkt entwickeln. Für beide gibt es jeweils eine große Herausforderung:
- Für Software-Entwickler:innen sowie Unternehmen besteht die Herausforderung darin, die Erwartungen der Nutzenden immer wieder zu übertreffen. Dies kann nur durch die stetige Erhebung, Analyse, Umsetzung und Evaluation – mit ausschließlichem Fokus auf die Nutzenden – gelingen. Nur wer für und mit Menschen arbeitet, kann ergründen, was sie tatsächlich begeistert.
- Für die Nutzerinnen und Nutzer besteht die Herausforderung darin, kooperativ mit Software-Entwickelnden die eigenen Bedürfnisse zu ergründen. Welchen Zweck erfüllt dieses Software-Produkt? Wie gehe ich mit diesem Produkt um, um meine persönlichen Ziele zu erreichen? Was kann ich während der Interaktion mit der Software erleben? Nur wer sich mit diesen Fragen und den eigenen Bedürfnissen intensiv beschäftigt, kann die Anforderungen an ein Software-Produkt formulieren.
Deshalb kommt es selten vor, dass erste Produktideen und Implementierungen die Bedürfnisse der Nutzenden erfüllen. In der Regel bedarf es vieler Iterationen, um ein Produkt so zu gestalten, dass es die Bedürfnisse seiner Nutzerinnen und Nutzer tatsächlich stillt.
Was hat das mit Accessibility zu tun?
Accessibility ist die Grundlage für eine positive UX. Sie gewährleistet die grundsätzliche Benutzbarkeit eines Software-Produktes und die verständliche Übermittlung der Inhalte. Gemäß ISO-Norm 9241-171:2008 gilt dies sowohl für „Menschen mit angeborenen oder später erworbenen physischen, sensorischen und kognitiven Behinderungen; ältere Menschen, die von neuen Produkten und Dienstleistungen profitieren können, aber in ihren physischen, sensorischen und kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt sind…“ als auch für „… Menschen mit zeitweise auftretenden Beeinträchtigungen, wie z. B. Personen mit gebrochenem Arm oder solche, die ihre Brille vergessen haben; und Menschen, die in bestimmten Situationen Schwierigkeiten haben, wie z.B. Personen, die in lauten Umgebungen arbeiten oder aufgrund ihrer Beschäftigung momentan keine Hand frei haben“.
Kurz gesagt: Alle Menschen profitieren von Accessibility.
Accessibility erfüllt ihren Zweck erst, wenn alle Nutzenden – mit und ohne Beeinträchtigung – wichtige Features eines Produktes wahrnehmen und den Einsatzzweck eines Produktes identifizieren können, ohne mit ihm zu interagieren.
Außerdem gewährleistet Accessibility die grundsätzliche Benutzbarkeit eines Software-Produktes und die verständliche Übermittlung der Inhalte.
Genormte Accessibility
Die ISO-Norm 9241-171:2008 definiert Zugänglichkeit (Accessibility) als „[...] Gestaltung von Software, die für Menschen mit einem möglichst breiten Spektrum physischer, sensorischer und kognitiver Fähigkeiten zugänglich ist, einschließlich vorübergehend in ihren Fähigkeiten beeinträchtigter und älterer Menschen.“ Und weiter: „Mangelnde Zugänglichkeit ist jedoch ein Problem, das viele Menschen betrifft. Die Benutzer von interaktiven Systemen sind bestimmungsgemäß Konsumenten oder Fachkräfte, wie z.B. Hausbewohner, Schüler, Ingenieure, Angestellte, Verkäufer, Webdesigner, usw. Die diesen Zielgruppen angehörenden Individuen unterscheiden sich in Bezug auf ihre physischen, sensorischen und kognitiven Fähigkeiten erheblich voneinander, und jede dieser Zielgruppen umfasst Menschen mit verschiedenen Fähigkeiten. Das heißt, dass Menschen mit Behinderungen keine eigenständige Gruppe bilden, die sich von den anderen trennen ließe und dann möglicherweise außer Acht gelassen werden könnte. Die Unterschiede in den Fähigkeiten können sich aus einer Vielzahl von Faktoren ergeben, die dazu führen, dass die Möglichkeiten zur Teilnahme an den Aktivitäten des täglichen Lebens eingeschränkt sind, und sie stellen eine allgemein menschliche Erfahrung dar.“ Beispielsweise profitieren: „Menschen mit angeborenen oder später erworbenen physischen, sensorischen und kognitiven Behinderungen; ältereMenschen, die von neuen Produkten und Dienstleistungen profitieren können, aber in ihren physischen, sensorischen und kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt sind; Menschen mit zeitweise auftretenden Beeinträchtigungen, wie z. B. Personen mit gebrochenem Arm oder solche, die ihre Brille vergessen haben; und Menschen, die in bestimmten Situationen Schwierigkeiten haben, wie z.B. Personen, die in lauten Umgebungen arbeiten oder aufgrund ihrer Beschäftigung momentan keine Hand frei haben“.
Ohne Accessibility keine Usability
Das Ziel der Accessibility ist die Gestaltung von Mensch-System Interaktionen, um die Zugänglichkeit zu erhöhen. Diese Erhöhung führt zu einer höheren Effektivität, Effizienz und Zufriedenstellung der Nutzenden [ISO 9241-171:2008, 2008]. Accessibility ist also eng mit dem Begriff der Usability verknüpft. Die ISO-Norm 25010:2011 spezifiziert Accessibility als Charakteristik der Usability. Auch Usability führt gemäß dieser Norm zu höherer Effektivität, Effizienz und Zufriedenstellung.
Als Methode für die Erhöhung der Accessibility nennt die ISO-Norm 9241-171:2008 den Einsatz eines kontextbasierten Gestaltungsprozesses, das Vorsehen von Möglichkeiten der Individualisierung und das Angebot von auf den jeweiligen individuellen Nutzer zugeschnittenen Anweisungen und Schulungen.
Zimmermann(2005) identifiziert Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Prinzipien „Accessibility“ und „Usability“ auf Grundlage ihrer Definitionen in den jeweiligen Normen 9241-171:2008 (Accessibility) und 25010:2011 (Usability):
- „Fehlertoleranz" ist wichtig sowohl für Usability als auch für Accessibility.
- „Selbstbeschreibungsfähigkeit" ist nahezu deckungsgleich mit „Verständlichkeit" als Faktor der Accessibility. Gleiches gilt für „Steuerbarkeit" und „Nutzbarkeit" als Faktoren der Accessibility.
- „Individualisierbarkeit (Usability) und „Flexibilität" (Accessibility) sind eng miteinander verwandt. Auch für „Erwartungskonformität" (Usability) und „Konsistenz" (Accessibility) trifft dies zu.
- Während „Aufgabenangemessenheit" und „Lernförderlichkeit" distinktive Faktoren der Usability sind, trifft dies auf „Gleichberechtigung", „Wahrnehmbarkeit" und „Robustheit" bei der Accessibility zu.
Die Gegenüberstellung macht deutlich, dass Accessibility eine Basis der Usability ist.
Umgekehrt gilt dies nicht: Ein gebrauchstaugliches Produkt, das einige Nutzer nicht verwenden können, kann allein dem Wortsinn nach nicht gebrauchstauglich sein.
Erst wenn die Accessibility dafür gesorgt hat, dass ein Software-Produkt für alle Nutzer mit den größtmöglich unterschiedlichen Fähigkeiten und Vorlieben nutzbar ist, kann und sollte Usability dafür sorgen, dass Nutzer das Produkt einfacher und effizienter nutzen können [Zimmermann, 2005]
Umgekehrt gilt dies nicht: Ein gebrauchstaugliches Produkt, das einige Nutzer:innen nicht verwenden können, kann allein dem Wortsinn nach nicht gebrauchstauglich sein.
Accessibility erhöht die Zufriedenheit der Nutzenden
Ein Software-Produkt erzeugt Zufriedenheit, indem es die Erwartungen seiner Nutzerinnen und Nutzer erfüllt, z.B. Effektivität, Effizienz (Usability), eine hinreichende Qualität oder einen angemessenen Preis. Haben Nutzer:innen den Eindruck, dass mindestens eine Erwartung nicht zutrifft, sind sie unzufrieden. Doch selbst bei der Erfüllung aller Erwartungen erzeugt ein Software-Produkt lediglich einen neutralen Zustand der Zufriedenheit.
Als Charakteristiken der Zufriedenheit nennt die ISO-Norm 25010:2011:
- „Zweckmäßigkeit"
- „Vertrauen"
- „Vergnügen" und
- „Bequemlichkeit"
Usability umfasst bereits die Zweckmäßigkeit eines Produkts. Da Nutzer eine gute Usability erwarten, erwarten sie somit auch diese Charakteristik. Bequemlichkeit bezieht sich auf die Ergonomie während der Nutzung des Produkts: Position, Nutzeraktionen und die Nutzungsumgebung sollen den Nutzer physisch nicht belasten.
Die entscheidenden Charakteristiken für die positive Gestaltung der Zufriedenheit sind „Vertrauen“ und „Vergnügen“. Dabei ist Vertrauen ein Aspekt, der zu Vergnügen führen kann. Die positive Gestaltung dieser Charakteristiken steigert neutrale Zufriedenheit erst in positive, echte Zufriedenheit.
Ein positiv zufriedenstellendes Software-Produkt erzeugt Freude, Spaß und Lust bei dessen Verwendung. Als Konsequenz gestaltet sich der Gesamteindruck des Produkts positiv, die Nutzungshäufigkeit und Nutzungsdauer steigen an, die Motivation, das Produkt zu nutzen erhöht sich und die Loyalität der Nutzenden gegenüber dem Produkt wächst [Hassenzahl, 2003].
Für die positive Gestaltung der UX muss ein Software-Produkt die Bedürfnisse der Nutzenden befriedigen – mit folgender Bedingung: Die Bedürfnisbefriedigung muss von den Nutzenden unerwartet, aber gewünscht sein. Sonst führt die erwartete Befriedigung von Bedürfnissen maximal wieder nur zu einem neutralen Zustand der Zufriedenstellung. Damit die unerwartete Bedürfnisbefriedigung ein gewünschter Effekt der Interaktion mit dem Software-Produkt ist, müssen die Nutzerinnen und Nutzer in dem aktuellen Nutzungskontext und in ihrem aktuellen physischen und psychischen Zustand die Befriedigung eines ihrer Bedürfnisse verspüren sowie wahrnehmen, dass diese Bedürfnisbefriedigung ein Effekt ihrer Interaktion mit dem Software-Produkt ist. Auch dies unterstreicht die hohe Relevanz von Accessibility.
Unerwartet und gewünscht? Wie geht das?
Ein Software-Produkt bietet erst dann Unerwartetes, wenn das Erwartete bereits implementiert ist. Also idealerweise: minimal notwendige Funktionalität und eine gute Usability.
Viele Nutzende wünschen sich etwas Neues, Aufregendes, Ungewöhnliches. Aber sobald sie solche Wünsche äußern und spezifizieren können, haben sie eine Erwartung. Es gilt also, die Bedürfnisse zu erfüllen, derer sich die Nutzenden nicht bewusst sind. Prinzipiell ist jede Bedürfnisbefriedigung etwas Gewünschtes, die Nutzerinnen und Nutzer müssen diese aber auch als solche wahrnehmen.
Wer herausfindet, welche Bedürfnisse Nutzer:innen haben – ohne direkt mit ihnen darüber zu reden und ohne, dass sie von diesen, ihren Bedürfnissen wissen – sorgt für maximale Zufriedenheit. Und hat nebenbei die größte Herausforderung bei der Software-Entwicklung gemeistert.
Accessibility und Usability – Fazit:
Accessibility ist nicht nur eine Charakteristik der Usability, sondern eine wichtige Voraussetzung für positive UX. Denn alle Informationen, welche die UX positiv gestalten, müssen die Nutzer:innen zunächst einmal wahrnehmen können. Doch fehlt die Zugänglichkeit, nützen auch die beste und sorgfältigste UX Research, das optimale Konzept, der passendste Prototyp und die positivste Evaluation überhaupt nichts.
Für die Wahrnehmbarkeit der Inhalte sind die Software-Entwickelnden verantwortlich. Nur wenn sie die Accessibility als wichtigen Bestandteil der Usability sehen, kann eine effektive, effiziente und zufriedenstellende Interaktion mit einem Software-Produkt entstehen. Und nur wenn die Nutzenden und deren Wahrnehmungen bei jedem einzelnen Schritt der Software-Entwicklung im Zentrum stehen, kann sich gute Usability in positive UX verwandeln. Denn für den Erfolg eines Software-Produktes ist der Fokus auf den Menschen essentiell. Sonst nichts.
Dieser Artikel ist auch in einer gekürzten Version verfügbar.
Quellen
DIN EN ISO9241-171:2008: "Ergonomie der Mensch-System-Interaktion – Teil 171: Leitlinien für die Zugänglichkeit von Software".
Hassenzahl, M., 2003: "The thing and I: understanding the relationship between user and product".
M.Blythe, C. Overbeeke, A. F. Monk, & P. C. Wright (Eds.), Funology: From Usability to Enjoyment, S. 31-42. Dordrecht: Kluwer Academic Publishers.
Hassenzahl, M.; Diefenbach, S.; Göritz, A. 2010: Needs, affect, and interactive products – Facets of user experience". In: Interacting with Computers 22 (5), S. 353–362.
ISO/IEC, 2011: "ISO/IEC 25010:2011-03 - Software-Engineering - Qualitätskriterien und Bewertung von Softwareprodukten (SQuaRE) - Qualitätsmodell und. Leitlinien". BeuthVerlag, Berlin.
Tuch, A. N., & Hornbæk, K., 2015: "Does Herzberg's notion of hygienes and motivators apply to user experience?". In: ACM Transactions on Computer-Human Interaction 22 (4), S. 1–24.
Zimmermann, G., 2005: "Usability und Barrierefreiheit – Gemeinsam sind wir stark?". In: Hassenzahl, M. & Peissner, M. (Hrsg.), Tagungsband UP05. Stuttgart: Fraunhofer Verlag, S. 38-45.